SichtweisenEinführung zur Ausstellung "Arm sind die Anderen" / 11.07.2011 Singen Rathaus /
Gehalten von Helga Sandl / Kunstwissenschaftlerin
Ich möchte mich ganz kurz bei Anna Blank und Andreas Sauer dafür bedanken, dass sie mich gefragt haben, ob ich dieses Projekt mit einer kleinen Einführung in die Ausstellung unterstützen möchte. Vielen Dank euch, für diesen Anstoß, aktiv zu werden!
Man sagt "Armut ist so alt, wie die Menschheit selbst" und genau deshalb müssen die Formen der Solidarität immer wieder neu gefunden und ausgehandelt werden:
"Arm sind die anderen", das ist zuerst einmal ein Ausschluss. Wer aber sind diese Anderen? Wie definiert sich dieses Anderssein? Und warum müssen wir uns abgrenzen?
Kunst wiederum ist ein ideales Medium, um auf unkonventionelle Art soziale Probleme sichtbar werden zu lassen und durch die Kunst hindurch eine andere Sichtweisen zu etablieren.
Andreas Sauer zeigt uns in den halb-dokumentarischen Fotografien die vielen verschiedenen Gesichter der Solidarität.
Er selbst sagt, es sei bei der Auseinandersetzung mit dem Thema eine Herausforderung für ihn gewesen, Armut fotografisch zu erfassen. Er hat sich dem Thema und den Menschen sehr sanft und leise angenähert, sich selbst als Künstler dabei zurückgenommen und ganz bewusst seinen künstlerischen Anspruch nicht ins Zentrum gestellt, sondern die Menschen, das Thema und das Ziel dieser Aktion:
Nämlich Aufmerksam machen und Sensibilisieren. Das waren seine Schlüsselbegriffe bei der Umsetzung. Sieht man nur eines dieser Portraits, eines der Stilleben oder eine einzige Szene aus dem Alltag der Singener Tafel, so weiß man nicht sofort, worauf sie abzielen. Die Fotos erschließen sich uns nicht unmittelbar. Wir brauchen ein wenig Geduld, müssen ein wenig näher heranrücken, unseren Abstand verkleinern, um auch die Zitate zu den Fotos lesen zu können. Wir müssen also selbst den Kontakt zu diesen Bildern aufnehmen, indem wir die räumliche Distanz verringern.
Wen und was zeigt uns Andres Sauer auf den Portraits?
Sie sind schlicht, direkt und ehrlich. Keine kunstvolle Inszenierung, keine Verklärung oder aufwändige Szenerie aber auch kein Zeigefinger und keine Anklage: Alle Portraitierten sind ausnahmslos vor einem schwarzen Hintergrund aufgenommen und werden von rechts außerhalb des Bildes beleuchtet. Alle sind auf die gleiche Art und Weise eingefangen worden und stehen hierarchielos für eine Sache. Sie sind alle gleich und doch ist natürlich jeder anders.
Wir als Betrachter werden von diesen Menschen angeblickt und können uns diesen Blicken nicht entziehen oder ihnen ausweichen. Der direkte Blick in die Kamera wird zur direkten Kontaktaufnahme mit dem Betrachter. Was sehen wir, wenn wir in diese Augen, in diese Gesichter blicken? Menschen, Menschen, wie du und ich.
Ihre Würde, ihre Ernsthaftigkeit aber auch ihre Ruhe hat der Fotograf eingefangen und verstärkt. Er hat ihre Persönlichkeit, ihren Charakter erfasst, sehr zurückhaltend und subtil. Auch Lachen, Freude und Wärme spiegeln sich auf den Gesichtern wider. Die Art, wie Andreas Sauer, die Helfer der Singener Tafel abgebildet hat, entspricht ganz und gar ihrer leisen Haltung, denn sie prahlen nicht mit ihren guten Taten, sie alle sind ehrenamtlich tätig, sie helfen einfach, sie sind einfach für Andere da. Oft lesen wir in den Zitaten, dass sie sich zusammen in der Tafel wie eine Familie fühlen, in der sich jeder um den anderen kümmert, sicht sorgt und Sorge für den anderen trägt. Diese Gemeinschaft gibt ihnen Halt. Es geht bei ihrer Arbeit um Wertschätzung und auch Respekt, Respekt vor dem Schicksal des Anderen.
Sie alle Teilen: Und teilen bedeutet ein Geben und ein Nehmen. Teilen bedeutet auch Teilhabe, wirklich an etwas Teil zu haben und Teil der Gesellschaft zu sein. Dazu müssen wir aufeinanderzugehen. Und dieses Aufeinanderzugehen symbolisieren auch die Stillleben. Hände, die sich einander entgegenstrecken, Essen teilen, einen Teller weiterreichen oder annehmen. Gesten der Hilfe.
Bunt und lebensfroh sind die Szenen aus dem Alltag der Tafel. Ja, das Alltägliche, das, was uns Anderen so selbstverständlich erscheint - sei es der Kuchen zum Nachmittagskaffe oder die Orangen zum Frühstück, dieses Alltägliche, dem wir keine besondere Achtung schenken, rückt der Fotograf in unser Blickfeld. Und ihm gelingt auch hier, dieser Normalität eine andere Qualität zu verleihen. Indem er die Stilleben und Aktionen zu Gleichnissen gestaltet, zeigt er uns sinnbildlich wie einfach eine Geste der Hilfsbereitschaft sein kann, und wie viel sie bewirken kann. Er verschiebt dabei fast unmerklich unseren Blick auf die Dinge - nur ein wenig - und lässt damit unsere Achtsamkeit wachsen.
Andreas Sauer wird seinem eigenen Anspruch gerecht, denn er trifft den Kern des Themas und die Fotos treffen uns als Betrachter. Während wir versuchen, zu verstehen, verändert sich unsere Position, verändert sich unsere Einstellung und wir erkennen, dass die Formen der Solidarität und des Miteinanders viele Gesichter und viele Facetten haben und dass das Andere Teil unseres Lebens ist.
Im Spiegelbild der Portraits wird uns klar: Auch wir sind die Anderen.
Vielen Dank für diese neue Sichtweise! |